Aktuelle Forschungsprojekte
Mit der Perspektive einer praxistheoretisch orientierten Schüler:innenforschung, die explizit den Fokus auf das Handeln von Schüler*innen legt und die paradigmatisch in den Studien zum ‚Schüler*innenjob‘ (Breidenstein) angelegt ist, soll in diesem Forschungsprojekt das schulbezogene Lernen und Bearbeiten von (Haus-)Aufgaben nicht nur innerhalb, sondern gerade auch außerhalb des Unterrichts untersucht werden. Wir untersuchen also den Schüler*innenjob nicht nur im Unterricht, sondern auch in außerunterrichtlichen Räume und Zeiten – mit einem Schwerpunkt auf Hausaufgaben. Dabei werden mehrere Schüler*innen aus unterschiedlichen Schulformen und sozialen Milieus in der Schule und den anderen Stationen bis hin zur Familie beobachtet und begleitet. Uns interessieren dabei die Verschränkungen sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Schüler*innenpraktiken in den unterschiedlichen Räumen von Schulklasse, Hausaufgabenbetreuung, Familie, Schulweg oder digitalem Raum und arbeiten heraus, wie sich über Hausaufgaben ungleiche Bildungschancen manifestieren. Ziel ist eine umfassende, praxistheoretisch gerahmte Darstellung des Schüler*innenjobs, die damit um außerunterrichtliche Anteile ergänzt und in ihrer Bezogenheit auf Unterricht sowie auf ungleiche Lernbedingungen ausdifferenziert wird.
Leitung: Karin Bräu (JGU) und Hedda Bennewitz (Universität Kassel)
Finanzierung: beantragt
Lernprozesse in der diskriminierungskritischen Hochschullehre
Diskriminierungsstrukturen und -erfahrungen sind allgegenwärtig. Schule, Soziale Arbeit, kulturelle Bildung und Hochschulen stellen hier keine Ausnahmen dar. Im Hinblick auf Bildungs- und Wissenschaftsorganisationen stellt sich vor diesem Hintergrund einerseits die Frage, inwiefern Diskriminierung in Wissensbestände und -erwerb eingelagert ist und andererseits, welche Möglichkeiten für diskriminierungskritische Bildungsprozesse in den Institutionen vorhanden sind. In den letzten Jahren sind vermehrt selbst- und machtreflexive Lehr-/Lernmaterialien entstanden, die auch in der Hochschule eingesetzt werden. Gleichzeitig ist noch ungeklärt, welche Bedingungen für diskriminierungskritische Bildungsprozesse nötig sind, wie Widerstände produktiv gemacht und Prozesse eines diskriminierungskritischen Conceptual Change befördert werden können. Das Forschungsprogramm setzt an diesem Desiderat an: Im Rahmen universitärer Lehrveranstaltungen werden die Auseinandersetzung mit diskriminierungskritischen Materialien, die Umgangsweisen mit dabei auftretenden Widerständen sowie die Entwicklung von Haltungen und (veränderten?) pädagogischen Handlungsweisen, kurz: Bildungsprozesse, untersucht. Dabei fokussieren wir auf die Auseinandersetzung mit Ungleichheit und Diskriminierungskritik im Bereich der Lehrer:innenbildung, der Sozialen Arbeit und der kulturellen Bildung.
https://www.diskriminierungskritische-bildungsprozesse.de/
Leitung: Yalız Akbaba (Schulforschung), Karin Bräu (Schulforschung), Alexandra Klein (Sozialpädagogik), Carmen Mörsch (Kunstdidaktik), Constantin Wagner (Sozialpädagogik) – alle JGU
Doktorand:innen: Adolé Akue-Dovi, Stefan Bast, Latifa Hahn, Merle Kondua, Lisa Mends, Sheila Ragunathan, Mako Sangmongkhon, Purnima Vater.
Finanzierung: Gutenberg-Nachwuchskolleg der JGU: 218.000€
Laufzeit: 2021-2024
Klasse in der Klasse. Doing Class in Schule und Unterricht I Promotionsprojekt Julian Breit
In Deutschland herrscht große Ungleichheit bei den Bildungschancen. Statistisch bedeutet das beispielsweise, dass der Anteil an Studierenden aus einem Akademiker*innenhaushalt deutlich höher ist als der von Kindern von Eltern, die keine akademische Ausbildung durchlaufen haben. Dieser Bildungstrichter existiert schon beim Übergang von der Grund- an eine weiterführende Schule, wird aber umso gravierender, je höher die Abschlüsse. Zum Beispiel promoviert eines von 100 Kindern ohne Elternteil mit abgeschlossenem Hochschulstudium, bei Kindern von Akademiker*innen sind es zehn.
Das deutet schon darauf hin, dass das Elternhaus bzw. die soziale Umgebung eines Menschen (soll heißen: seine soziale Herkunft) in Deutschland eine starke Rolle für die Bildungskarriere spielt. Beim PISA-Bericht für 2018 wird zusammenfassend festgehalten, „dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft […] und Lesekompetenz in Deutschland im Vergleich zum OECD-Mittel überdurchschnittlich ausgeprägt ist.“ Es geht dabei nicht darum, dass Kinder an unterschiedlichen Schulen unterschiedlich gebildet werden, sondern dass die Bildungsbiografien von Heranwachsenden in Deutschland maßgeblich von dem sozioökonomischen Hintergrund ihrer Familien bestimmt sind. Insgesamt mangelt es in der Bundesrepublik also nicht unbedingt an Bildungschancen per se – auch wenn es dabei durchaus starke regionale Unterschiede gibt –, aber an einer fehlenden Chancengerechtigkeit. Schon 2004 verwies der Sozialstrukturanalytiker Rainer Geißler in Anbetracht der ersten PISA-Studie auf diese Diskrepanz und betitelte sie als „Illusion der Chancengleichheit“, 2008 erklärte die Bildungssoziologin Heike Solga auf Basis langjähriger Forschung, „wie das deutsche Schulsystem Bildungsungleichheiten verursacht“. Inzwischen scheint sich an der Diskrepanz zwischen der sozialen Realität, dass Schule die sozialen Verhältnisse (re)produziert, und dem politischen Anspruch, dass man den schulischen Bildungsauftrag „über jedes gesellschaftliche Problem stülpen“ (so Aladin El-Mafaalani 2020 in seinem Buch "Mythos Bildung") könne und diese somit verschwinden, nichts Grundlegendes geändert zu haben.
Aus diesen makroperspektivischen Betrachtungen und Feststellungen ergeben sich für das Promotionsprojekt Fragestellungen, die sich mit mikroperspektivischem und interaktionsanalytischem Fokus der Institution Schule und noch genauer dem sozialen System des Unterrichts nähert. Zum einen stellt sich anschließend an die Konzeptionalisierung des Doing Difference (siehe dazu West und Fenstermaker, die das Doing vor allem in Hinblick auf Gender analysiert haben) die Frage, ob und inwiefern ein Doing Class in der Schule existiert. Wie bestimmen also performative Praktiken des Habitus den Alltag im Unterricht und welche Wirkmacht entwickeln Milieu/Klasse/soziale Herkunft in der Schule? Wie werden diese Differenzkategorien situativ hergestellt und wie drückt sich in diesem Kontext die Macht aus, die mit gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen einhergeht? Inwiefern zeigen sich Akte von Abweichung und Widerstand in der normgebenden Institution Schule herausbilden (in Anlehnung an die Dissertation von Yalız Akbaba (2017): Lehrer*innen und der Migrationshintergrund. Widerstand im Dispositiv). Auch ist damit eng die Frage verknüpft, wie überhaupt eine sinnvolle Sprache über die Problematik gefunden werden kann, die weder in Wortwahl noch in der Beschreibung zur Reifizierung der Diskriminierung und Ungleichbehandlung beiträgt oder diese legitimiert.
Abgeschlossene Forschungsprojekte (Auswahl, seit 2018)
Undoing Disability. Transnormalistische Leistungspraktiken in inklusivem Unterricht
Der Anspruch an Inklusion als Wertschätzung aller Menschen ohne Hierarchisierung von Fähigkeiten steht mit der Leistungslogik von Schule in einem starken Spannungsfeld. Nachdem sich in vielen Studien die massiv verwurzelte ableistisch codierte schulische Ordnung gezeigt hat, die auch in Inklusiven Settings permanent Exklusionen produziert, untersuchen wir Spuren des Widerstands von Seiten der Lehrer:innen und Schüler:innen gegen fähigkeitshierarchisierende Zuschreibungen im Unterricht und in der Schule. Mit einem ethnografischen Zugang an reformorientierten, inklusiven Schulen, in denen ein reflexiver Umgang mit dem schulischen Leistungsverständnis vorausgesetzt wird, werden im Projekt transnormalistische Praktiken, die Teilhabemöglichkeiten performativ prozessieren, identifiziert und vor dem Hintergrund möglicher Ambivalenzen untersucht.
Leitung: Yalız Akbaba und Karin Bräu (beide JGU)
Mitarbeiter: Julian Breit
Finanzierung: Vorstudie aus Eigenmitteln
Der Anspruch der Inklusion im Spannungsfeld von Meritokratie und egalitärer Differenz
Aus fachdidaktischen, schul-, sonder- und allgemeinpädagogischen sowie soziologischen Perspektiven wird der institutionelle Wandel im Bildungsbereich untersucht, der durch den Inklusionsanspruch in Gang gesetzt wurde und wird. Die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems stellt seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland eine normative Maßgabe für alle Institutionen des Bildungsbereichs dar, nämlich Inklusion und Teilhabe zu realisieren und das Prinzip der „egalitären Differenz“, also der gleichwertigen Teilhabe aller Schüler*innen im Bildungssystem – unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit – zu stärken. Der daraus entstandene Schulentwicklungs- und Innovationsschub ist allerdings insofern gefährdet, insofern das Bildungssystem gleichzeitig dem meritokratischen Prinzip zu folgen vorgibt, für das Leistung, Selektion und Wettbewerb um Abschlüsse und berufliche Optionen zentral sind. Die Entwicklung zu einem „inklusiven“ Bildungssystem hat demnach auf allen Systemebenen (v.a. Unterricht, Einzelschule, Bildungsverwaltung und -politik), mit der Bearbeitung und Ausbalancierung dieses Spannungsfeldes von Teilhabe und Leistungswettbewerb zu tun. Die zentrale Fragestellung der Forscher:innengruppe lautet: Wie wird auf allen Ebenen des Bildungssystems in der sozialen Praxis das durch den Innovationsanspruch sich verschärfende Spannungsfeld der gleichzeitig geltenden Prinzipien egalitärer Differenz und Meritokratie bearbeitet und welche realen Folgen kann das für das Bildungssystem haben?
https://www.uni-frankfurt.de/109385511/Forschungsinitiative_Inklusion_im_Spannungsfeld
Leitung: Karin Bräu (JGU) und Diemut Kucharz (Uni Frankfurt/M.) (als Sprecherinnen); Katja Adl-Amini, Barbara Asbrand, Isabell Diehm, Michael Fingerle, Julia Gasterstädt, Dieter Katzenbach, Matthias Martens, Ulrich Mehlem, Mirja Silkenbeumer, Michael Urban, Rose Vogel (alle Uni Ffm); Yalız Akbaba, Anja Hackbarth, Christine Schlickum, Anja Müller (alle JGU)
Mitarbeit: Anna Kistner, Katharina Kanz, Julian Breit
Finanzierung: RMU-Initiativfonds: 118.000€
Laufzeit: 2019-2021