Mainzer Fallorientierung

Mainzer Fallorientierung: empirisch, interdisziplinär

Ein Profilmerkmal des Studiums der Bildungswissenschaften für das Lehramt an Gymnasien an der Johannes Gutenberg-Universität ist die Orientierung bzw. die Arbeit an und mit sogenannten Fallbeispielen im Rahmen von Vorlesungen und (Pro-)Seminaren. Die in den Lehrveranstaltungen genutzten Fallbeispiele stammen aus der schulischen und unterrichtlichen Praxis unterschiedlicher Schulfächer. Es handelt sich dabei um Aufzeichnungen (Video und Audio), Wortprotokolle sowie Beschreibungen und Materialien von:

  • Unterrichtsstunden oder Unterrichtssequenzen/-phasen,

  • Interaktionen zwischen schulischen Akteur:innen (Lehrpersonen, Schüler:innen) inner- und außerhalb des Unterrichts,

  • Interviews mit Lehrpersonen über ihre beruflichen Erfahrungen und ihren beruflichen Entwicklungsprozess,

  • Interviews mit Schüler:innen über ihre Erfahrungen in der Schule, ihre Schullaufbahn und die Bedeutung der Schule in ihrem Leben.

Darüber hinaus lassen sich auch andere Dokumente aus der Schule zum Gegenstand der Analyse und Diskussion machen, etwa Verbalgutachten, Schulprogramme und -konzepte, Homepagepräsentationen, Schulbücher etc.

Dokumente einer Unterrichtssituation, ob als Videografie oder protokollierter Text, wirken auf einen ersten Blick hin häufig unproblematisch und klar. Diesen Anschein gilt es zu hinterfragen, zu irritieren und zu analysieren. Dazu werden in der Seminararbeit die Videografien und/oder verschriftlichten Protokolle unter spezifischen Fragestellungen und dafür ausgewählten Analysemethoden gemeinsam erschlossen. Unabhängig von den jeweils konkreten Fragen, die sich aus der Art der Dokumente (Video und/oder, Audio, Text, Abbildung) sowie aus der thematischen bzw. theoretischen Orientierung der Lehrveranstaltung ergeben, werden die von den Lehrpersonen und Schüler:innen erzeugten Handlungen herausgearbeitet (z.B. mit Hilfe vorab festgelegter Indikatoren (Hugener, 2010; Lotz, 2016; Lotz et al., 2013) oder sequentiell hermeneutisch als Explikation von Sinngehalten (Wernet, 2009, Schelle et. al., 2010, 2021) und daraufhin überprüft, ob sie dem jeweiligen Situationskontext und den Anforderungen pädagogischen und didaktischen Handelns angemessen erscheinen. Dazu müssen Handlungsalternativen gedanklich durchgespielt und auf ihre Konsequenzen hin befragt werden. Gefragt wird in der Analyse und Diskussion also nicht nur, was die Lehrperson getan hat und was dies im konkreten Situationskontext bedeutet. Es wird auch überlegt, was die Lehrperson hätte anders tun können und wie sich dann die Situationsbedeutung womöglich verändert hätte. Dieses Entwerfen von Handlungsalternativen ist notwendig, denn ohne diese Gedankenexperimente lässt sich die Bedeutung des faktisch eingeschlagenen Handlungswegs nicht bestimmen. Solche Analysen von Fällen eröffnen die Möglichkeit, ein breites Spektrum schulpädagogischen Handelns auszuleuchten und zu problematisieren.

Mit dem dargestellten Ansatz und der Bezugnahme auf Dokumente aus der Schulpraxis kann auch die Komplexität des Theorie-Praxis-(Empirie)-Verhältnisses in der Schulpädagogik thematisiert werden. Dies ist eine wichtige Voraussetzung zu einem Verständnis professionellen Handelns in der Schule sowie für Unterrichts- und Schulentwicklungsprozesse. Dies zeichnet sich durch ein professionelles Handlungsrepertoire aus, das fall- und situationssensibel immer wieder aufs Neue vermittelt werden kann. So betrachtet ist das Lehrer:innenhandeln ein eigenständiges, kreatives Handeln unter steter Bewährung, das sich als reflektiert, zukunftsoffen, somit potenziell revisionsfähig und transformierbar fassen lässt.

Was in der fallorientierten universitären Lehrer:innenbildung geleistet werden kann, ist die Reflexion der Praxis im Medium des Empirischen und des Theoretischen. Dabei werden sowohl die nicht unmittelbar beobachtbaren Widersprüche, Strukturprobleme und Anforderungen der Schulpraxis und der unterschiedlichen Fachdisziplinen diskutierbar, als auch ein fallangemessener Umgang mit abstraktem Theoriewissen gefördert. In der Hauptsache geht es damit im schulpädagogischen Studium um die erste Grundlegung von Reflexivität, die ein zentrales Element von pädagogischer Professionalität ist. Studierende sollen in die Lage versetzt werden, die Komplexität des Schulalltags und seine Auswirkungen auf die Entwicklungsprozesse von Schüler:innen und Lehrer:innen zu erkennen. Insofern muss also die Erwartung von Studierenden, der Sinn von Schulpädagogik als Berufswissenschaft bestünde in der Vermittlung „handwerklicher” Kenntnisse, enttäuscht werden. Vielmehr bietet das Hochschulstudium die Chance: vom schulischen Handlungsdruck entlastet in einer reflektiert-distanzierten, nichtinvolvierten Haltung an fremden und eigenen Fällen aus der Schulpraxis auf jene Prozesse zu blicken, die alltäglich die Schule hervorbringt und die für alle Beteiligten, nicht nur Schüler:innen, sondern auch Lehrer:innen, erfahrungsrelevant und entwicklungsbedeutsam werden (vgl. Schelle et al., 2010).

Literatur

Hugener, I. (2010). Überblick über die Beobachtungsinstrumente. In I. Hugener, C. Pauli & K. Reusser (Hrsg.). Dokumentation der Erhebungs- und Auswertungsinstrumente zur schweizerisch-deutschen Videostudie “Unterrichtsqualität, Lernverhalten und mathematisches Verständnis” (S. 45-54). Frankfurt am Main, GFPF.

Lotz, M. (2016). Kognitive Aktivierung im Leseunterricht der Grundschule: Eine Videostudie zur Gestaltung und Qualität von Leseübungen im ersten Schuljahr. Wiesbaden: Springer VS.

Lotz, M., Gabriel, K. & Lipowsky, F. (2013). Niedrig und hoch inferente Verfahren der Unterrichtsbeobachtung. Analysen zu deren gegenseitiger Validierung. Zeitschrift für Pädagogik, 59 (3), 357-380.

Schelle, C., Rabenstein, K. & Reh, S. (2010). Unterricht als Interaktion. Ein Fallbuch für die Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Schelle, C., Fritzsche, B. & Lehmann-Rommel, R. (2021). Falldarstellungen für eine komparative, praxeologische Seminararbeit. Unterrichtssituationen aus Deutschland, Frankreich, Senegal und England. Münster/New York: Waxmann.

Wernet, A. (2009). Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Qualitative Sozialforschung Bd. 11., 3. Auflage. Wiesbaden: VS-Verlag.