Mainzer Fallorientierung

Was heißt Fallorientierung?

Ein wesentliches Profilmerkmal des Mainzer Studiums der Bildungswissenschaften im Studiengang Lehramt an Gymnasien ist die kasuistische Orientierung, d.h. die Arbeit an und mit Fallbeispielen im Rahmen einiger Vorlesungen und Seminare. Die in der Lehre eingesetzten Fallbeispiele stammen alle aus dem Gesamtkontext der Schulpraxis. Es handelt sich um wortgenaue Protokolle von

  • Unterrichtsstunden oder Unterrichtsszenen,

  • Interaktionen zwischen schulischen Akteuren, also Lehrer/innen, Schüler/innen und Eltern, inner- und außerhalb des Unterrichts,

  • Interviews mit Lehrer/innen über ihre beruflichen Erfahrungen und ihren beruflichen Entwicklungsprozess,

  • Interviews mit Schüler/innen und Ehemaligen über ihre Erfahrungen in der Schule, ihre Schullaufbahn und die Rolle der Schule in ihrem Leben.

Darüber hinaus lassen sich auch andere Dokumente aus der Schule zum Fall und damit zum Gegenstand der Analyse und Diskussion machen, etwa Verbalgutachten, Briefe, Schulprogramme und -konzepte, Mitschnitte von Schulleiterreden etc.

Die Protokolle sprechen nicht für sich selbst, auch wenn sie für viele Studierende beim ersten Hinsehen unproblematisch und klar erscheinen, keinen Anstoß erregen und so eine eingehendere Analyse als nicht notwendig erachtet wird. Diesen konkreten Anschein der protokollierten Situationen gilt es zu hinterfragen und zu irritieren. Dazu müssen in der Seminararbeit die Protokolle in gemeinsamen Interpretationsprozessen unter Verfolgung spezifischer Fragestellungen erschlossen werden. Unabhängig von den jeweils konkreten Fragen, die sich zum einen aus der Protokollart sowie zum anderen aus der thematischen bzw. theoretischen Orientierung der Lehrveranstaltung ergeben, werden die von den Protagonisten des Protokolls erzeugten Bedeutungen Schritt für Schritt gründlich herausgearbeitet und daraufhin überprüft, ob sie dem jeweiligen Situationskontext angemessen erscheinen. Dazu müssen Handlungsalternativen gedanklich durchgespielt und auf ihre Konsequenzen hin befragt werden. Gefragt wird in der Analyse und Diskussion (etwa von Unterrichtsszenen) also nicht nur, was der Lehrer getan hat und was dies im konkreten Situationskontext bedeutet. Es wird auch ausbuchstabiert, was der Lehrer hätte anders tun können und wie sich dann die Situationsbedeutung verändert hätte. Dieses Entwerfen von Handlungsalternativen, die möglich gewesen wären, aber nicht genutzt wurden, ist unbedingt notwendig. Denn ohne diese Gedankenexperimente kann man die Bedeutung des faktisch eingeschlagenen Handlungswegs gar nicht exakt bestimmen. Eine solche Analyse des Falls eröffnet also nicht nur die Möglichkeit, die Spezifik des Falls, seine Besonderheit zu rekonstruieren, sondern auch in Form der entwickelten Alternativen ein breites Spektrum schulpädagogischen Handelns auszuleuchten und zu problematisieren. Insofern weist der Einzelfall immer über sich hinaus auf potenziell andere Situationskonstellationen, die denkbar gewesen wären und als Kontraste entworfen werden könnten. Grundvoraussetzung einer solchen Interpretationsweise ist eine lebhafte Seminardiskussion, an der sich möglichst alle Studierenden beteiligen.

Wozu Fallorientierung?

Mit dem oben dargestellten kasuistischen Ansatz soll im Studium ein Praxisbezug hergestellt werden, der der Komplexität des Theorie-Praxis-Verhältnisses in der Schulpädagogik gerecht wird. Was heißt das? Viele Studierende beginnen ihr pädagogisches Studium mit der Erwartung, in den Lehrveranstaltungen in das kleine oder große Einmaleins der Schulpädagogik eingewiesen zu werden und einen festen Kanon anerkannten Wissens vermittelt zu bekommen, das überdies unmittelbar praxisrelevant und damit handlungswirksam sein soll. Dahinter steht die Vorstellung, dass pädagogisches Wissen von der Art eines quasi-technologischen Handlungswissens ist, das dem Lehrer, wenn es erst einmal erworben wurde, ein technisches Instrumentarium zur Verfügung stellt im Sinne von Handlungsprogrammen und Rezeptologien, die, korrekt angewandt, nahezu alle Praxissituationen bewältigbar machen.
Die Vertreter/innen der Mainzer Schulpädagogik gehen dagegen davon aus, dass für das Lehrerhandeln die Differenz zwischen Wissen und Können bzw. Theorie und Praxis wesentlich ist. Professionelles Handeln zeichnet sich dieser Annahme zufolge dadurch aus, dass Bestände des theoretischen sowie des Erfahrungswissens als auch Elemente des professionellen Handlungsrepertoires in einer fall- und situationssensiblen Verbindung immer wieder aufs Neue praktisch vermittelt werden. Folgt man dieser These, dann ist das Lehrerhandeln ein eigenständiges, kreatives Handeln unter steter Bewährung, das sich als reflektierte, zukunftsoffene, somit potenziell revisionsfähige und transformierbare Routine fassen lässt.

An der Universität können dann auch nicht Handlungsmuster eingeübt oder gar trainiert und unumstößliche, theoretische Wissensbestände erlernt werden. Was in der universitären Lehrerbildung geleistet werden kann, ist die Reflexion der Praxis im Medium des Theoretischen. Dabei werden sowohl die in der Regel nicht unmittelbar beobachtbaren Widersprüche, Strukturprobleme und Anforderungen der Schulpraxis diskutierbar als auch ein reflektierter, fallangemessener Umgang mit abstraktem Theoriewissen gefördert. In der Hauptsache geht es damit im schulpädagogischen Studium um die erste Grundlegung von Reflexivität, die ein zentrales Element von pädagogischer Professionalität ist. Diese Reflexivität soll die Studierenden in die Lage versetzen, die Komplexität des Schulalltags und seine Auswirkungen auf die Entwicklungsprozesse von Schüler/innen und Lehrer/innen zu erkennen. Insofern muss also die Erwartung von Studierenden, der Sinn von Schulpädagogik als Berufswissenschaft bestünde in der Vermittlung „handwerklicher” Kenntnisse, im wahrsten Sinne des Wortes enttäuscht werden; das schulpädagogische Studium besteht im Wesentlichen in der reflexiven, wissenschaftlichen Beschäftigung mit Theorien und Themen. Im universitären Primat der Theorie soll eine Auseinandersetzung mit schulischer Praxis stattfinden, durch die Professionalisierungspotenziale geweckt werden sollen.

Für den berufsbiographischen Entwicklungsprozess, das Lehrerwerden und Lehrersein, ist es unbedingt notwendig, eine dritte Perspektive einnehmen zu können. Oft sind Studierende zu Beginn des Studiums noch der Schülerperspektive verhaftet, was aufgrund der geringen zeitlichen Distanz zur eigenen Schullaufbahn verständlich ist. Zugleich wird schon recht bald versucht, antizipierend die Perspektive des beruflich handelnden Lehrers einzunehmen, was an den oben genannten Erwartungen hinsichtlich der unmittelbaren Praxisrelevanz der Studieninhalte erkennbar wird. Mit einem solchen raschen Perspektivenwechsel vom Lernenden zum Lehrenden wird aber genau die Chance verpasst, die das Hochschulstudium bietet: nämlich vom schulischen Handlungsdruck entlastet in einer reflektiert-distanzierten, nichtinvolvierten Haltung an fremden Fällen aus der Schulpraxis einen dritten Blick auf jene Prozesse zu werfen, die alltäglich die Schule hervorbringt und für alle Beteiligten, nicht nur Schüler/innen, sondern auch Lehrer/innen erfahrungsrelevant und entwicklungsbedeutsam werden. Die kasuistische Profilierung des Studiums der Bildungswissenschaften an der Universität Mainz soll die Entfaltung eines solchen dritten Blicks befördern.